Suse Günthers Bericht von einem Notfallseelsorge-Einsatz im Katastrophengebiet in der Nordeifel
Es gibt wohl niemanden, der in diesen Tagen nicht fassungslos die Bilder aus unserer unmittelbaren Nähe im Fernsehen verfolgt hätte: Die Überschwemmungskatastrophe im Ahrtal macht uns alle sprachlos.
Als die Anfrage von Pfarrer Hauth, Eisenberg, der die Notfallseelsorge unserer Landeskirche koordiniert, kam, sich für einen Tag dort zum Einsatz zu melden, war ich daher fast schon erleichtert, wenigstens einen winzigen Beitrag leisten zu können. Zumal alles gut organisiert von hier aus war. Kleine ökumenische Teams wurden täglich von der Pfalz aus zusammengestellt. Ich musste mich um nichts kümmern, sondern lediglich um 6.00h mich am Outlet Center einfinden, um dort zusammen mit zwei anderen Kollegen aus dem Pirmasenser Raum, Pastoralreferentin Egle Rudyte-Kimmle und Pfarrer Uwe Beck, Richtung Nürburgring aufzubrechen. Dort befindet sich die Einsatzzentrale, von der aus alle Dienste organisiert werden.
Wer Kirchentage kennt, der hat eine ungefähre Vorstellung von der Logistik, die dort aus kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurde. Ein Feldbettenlager unter freiem Himmel, die Hotels am Nürburgring belegt mit Menschen, die durch die Flut obdachlos geworden waren. Schlange stehen für Kaffee und Picknick Pakete, sich einfinden bei der jeweiligen Einheit, um sich registrieren und später dann einteilen zu lassen…. Nur in eine verstopfte U Bahn mussten wir uns nicht begeben; Wir wurden von einem jungen Rotkreuz Helfer aus dem Westerwald im Kleinbus des dortigen Roten Kreuzes Richtung Altenahr transportiert. Schon auf dem Weg zum Nürburgring waren uns viele Hilfszüge begegnet: Rotes Kreuz und THW, DLRG und Polizei, selbst Wasserwacht und Bergwacht fehlten nicht: Alle verfügbaren Kräfte schienen sich auf diese Eifelgegend zu konzentrieren, von denen vorher kaum jemand den Namen wusste.
Auf der Fahrt nach Altenahr hatten wir genau die Bilder vor Augen, die wir aus dem Fernsehen kannten: Zerstörung in einem Ausmaß, wie sie uns im behüteten Deutschland bisher unvorstellbar gewesen waren. Die Gegend, die vor allem durch den (durch Corona schon schwer gebeutelten Tourismus) gelebt hatte, war dem Erdboden gleich gemacht. Von Campingplätzen war nichts mehr übrig als Wälle von Plastikteilen, aus denen man nur bei genauem Hinsehen Stücke von Wohnwagen ausmachen konnte. Von Eisenbahnlinien waren hochgebogene Metallschienen übrig geblieben. Von Hotels und Wohnhäusern Ruinen.
Bis drei Kilometer vor Altenahr konnten wir mit dem Auto einigermaßen vorankommen, dann ging es nur noch zu Fuß weiter. So konnten wir unserem Auftrag „Erkundungsgang“ von Anfang an gerecht werden. „Erkundungsgang“ bedeutet: Macht Euch auf den Weg und seht, wo Ihr gebraucht werdet.
Mein erster Eindruck: Überall wird gearbeitet, geholfen, niemand der nicht eine Schippe in der Hand hat, Essen und Trinken organisiert. Neben all den Hilfsdiensten von Kempten bis Aurich auch viele Freiwillige. Landwirte, die mit ihren Traktoren Hänger voller Schutt transportieren, kleine Abschleppdienste, die Autowracks aus dem Müll ziehen. Wer einen Lastwagen mit Greifarm oder Bagger hat, scheint hier versammelt zu sein um anzupacken, die Autokennzeichen auch hier Deutschland weit.
In der Ortsmitte an der Kirche angekommen, beschlossen Egle und ich, dieses imposante Gebäude, das etwas höher lag und daher völlig unzerstört war, anzusehen. Bevor wir allerdings die Kirchentür öffnen konnten wurden wir von einem Notfallseelsorger fast schon überfallen. Wie sich später herausstellte, war dieser Mann der Leiter des örtlichen Teams, seit Mittwoch ohne Pause im Einsatz und völlig am Ende der Kräfte. Mit den Worten „wo kommt Ihr her, wo kommt Ihr her, wo kommt Ihr her“ wandte er sich an uns und erklärte, wie sehr er Kräfte angefordert habe und bisher niemanden bekommen. Wie wir später feststellten, war das so nicht richtig. Verständlich, dass jemand, der seit Tagen nicht geschlafen hatte, den Überblick verloren hatte und einfach durch den Anblick der lila Jacken getröstet, die Notfallseelsorge in diesem Moment vielleicht selbst am nötigsten hatte.
Überhaupt haben wir später festgestellt, dass alle, die da aus unmittelbaren Gegend im Einsatz waren, seit Mittwoch so gut wie nicht mehr zur Ruhe gekommen waren. Wir Helfer*innen von außerhalb können nach einer gewissen Zeit wieder abfahren. Die Leute dort bleiben. Sie laufen einfach immer weiter. Wie auf Autopilot. Ob Bürgermeister oder Pfarrer, ob freiwillige Feuerwehr oder Helferinnen bei der Essensausgabe: Abschalten ist einfach nicht mehr möglich.
Als wir dann den Schritt in die Kirche hinein machten, bot sich uns ein bewegendes Bild: Die Kirche war voll. Mit Hilfsgütern. Eine Helferin war damit beschäftigt, Spenden zu sortieren. Jede Kirchenbank hatte ihre Beschriftung: Damen, Herren, Kinder. Hygieneartikel. Schuhe standen sorgfältig aufgereiht auf den Altarstufen. Der Kollege hatte übrigens am Sonntag seine Messe in genau dieser Kirche gehalten. So wie sie war. Die Leute konnten sich dazwischen stellen oder von außen zuhören.
Wir hatten dann noch Gelegenheit, uns mit diesem rührigen Pfarrer zu unterhalten. In der Nacht der Katastrophe hatte er die Kirche geöffnet, die nun alle den Menschen Schutz bot, die Zuflucht suchten, ob Einheimischen oder Hotelgästen. Und seitdem nicht mehr geschlossen. Vor dem angrenzenden Gemeindehaus gab es Kaffee und Getränke, Hilfsdienste wurden organisiert: Wer braucht ein Dach über dem Kopf, wer bietet ein Bett an? Wer kann Haustiere aufnehmen? Auch der Kindergarten war nicht mehr nur denen offen, die hier einen bezahlten Platz hatten. Wer Betreuung brauchte, bekam sie hier.
Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass es in Altenahr alles gab. Im Überfluss, wie aus dem Nichts.
Wassercontainer wurden per Hubschrauber eingeflogen. Warmes Essen, Wasserflaschen, Coladosen, alles war auf einmal da. Wo vorher eine leere Mauer gewesen war, standen auf einmal eine Batterie Eimer und Schubkarren, Zettel mit Wlan-Verbindungen und der Aufforderung, sich dort einzuloggen. Eine Gruppe junger Leute kam aus den Weinbergen herunter, bewaffnet mit Schippen und Besen. Sonnenhüte und –creme? Hier sind sie. Seife und Handtuch? In der Kirche abzuholen. Als ich eine Wasserflasche einer Frau, die darum gebeten hatte, in die Hand drückte, antwortete sie mir mit den Worten: Lekker cool (gut kalt): Die Frau war aus den Niederlanden zum Helfen da.
Wir hatten unsere „Zelte“ inzwischen unterhalb der Kirche (Egle und ich) und hinter der Kirche (Uwe) aufgeschlagen. Unterhalb der Kirche war das logistische Zentrum. Hier trafen sich alle Dienste, hier wurden Essen und Getränke ausgegeben. Hier wurden Einsätze verteilt.
Wir hatten eigentlich erwartet, angefragt zu werden etwa zum Betreuen von Menschen, die ihre Angehörigen verloren hatten oder noch vermissten. Aber das scheinen die Einwohner dort in erster Linie unter sich ausgemacht zu haben: sich selbst gegenseitig beizustehen in der Not, die alle verbindet, ist sicherlich in dieser Situation das Naheliegende und Hilfreiche. Wir blieben also auf dem Platz, sichtbar und erreichbar. Und wurden immer wieder angesprochen. Helfer*innen berichteten uns von ihrem tagelangen Einsatz. Von ihren Erlebnissen. Viele bedeuteten uns auch einfach, dass es gut sei, dass wir da wären. Es scheint entlastend gewirkt zu haben, dass man nicht vergessen ist. Dem völlig überforderten Einsatzleiter der Notfallseelsorge vor Ort bedeuteten wir, dass er sich ruhig ein wenig zurückziehen könne, jetzt wo wir da wären, wollte er das auch gerne annehmen. Aber schon kurze Zeit später sahen wir ihn wieder über den Platz hasten. Zurückziehen konnte sich in diesen Tagen keiner. Aber es wurde doch immer wieder als hilfreich angemeldet, dass die Möglichkeit bestand. Die Leiterin der Feuerwehr legte uns ihre Leute ans Herz, die ebenfalls seit Tagen ohne Unterbrechung gearbeitet hatten. Von denen ist dann keiner gekommen. Aber der Leiterin half es, dass sie das Angebot machen konnte. Und dass sie selbst mit uns sprechen konnte. Der katholische Kollege, vor dem ich nur meinen (Sonnen-)Hut ziehen konnte, berichtete von seinen Erlebnissen. Eine Helferin der Notfallseelsorge vor Ort wollte eine von uns mitnehmen zur Überbringung einer Todesnachricht. Kam dann aber und hatte das schon selbst erledigt. Geholfen hat es ihr aber, dass jemand da war, der das hätte übernehmen können. Dass sie nicht die Einzige war. Dass sie nicht vergessen war. Dass sie dann berichten konnte von ihren Erlebnissen. Und dass es sich als leichter herausstellte, als sie es sich vorgestellt hatte.
Und so habe ich die Erfahrungen, die ich aus dem Krankenhaus kenne, auch in Altenahr gemacht. Manchmal ist Seelsorge sehr praktisch ausgerichtet. Frische Strümpfe und Arbeitshandschuhe für völlig verdreckte Helfer*innen? Ein Sitzplatz mit kühlem Getränk im Schatten? Ein offenes Ohr? Ein Lachen? Gelacht wurde tatsächlich viel. Gejammert gar nicht. Das Erleben von Solidarität, von Hilfe hat wohl allen dort vor Ort am meisten geholfen. Am meisten berührt: Wir sind gesehen. Von den Menschen. Und tatsächlich auch von Gott.
Das ist das, was ich von dort mitnehme und womit ich nicht gerechnet hätte: Der immer noch vorhandene tiefe Glaube der Menschen, die nach und in diesen Erlebnissen nicht mit Gott abgeschlossen haben, sondern ihn immer noch und gerade jetzt als Ressource begreifen.
Einer der vielen Eindrücke dieses Tages soll daher hier zum Abschluss noch genannt werden:
Eine Helferin, die in der Mittagspause ein warmes Essen vom Imbisswagen bekommen hatte, wurde von ihrem Mitstreiter in den Arm genommen mit den Worten: „hast Du was zu essen bekommen?“
Ihre Antwort: „Ja, Gott sei Dank“ . Und der Blick ging zum Himmel.
Seine Hilfe werden wir neben der menschlichen brauchen. Die Zeit drängt. Gerade jetzt. Denn in der Hitze trocknet der Schlamm. Verbreiten sich Krankheiten, die in dem kontaminierten Dreck lauern.
Bis alles wieder einigermaßen bewohnbar ist, wird es Jahre dauern. Und dann wird es niemals wieder sein wie es war. Die Wenigsten werden ihr Hotel, das sich nur mit Mühe über die Corona Zeit gerettet hat, wieder aufbauen können. Niemand wird seinen Wohnwagen wieder einem Campingplatz so nah am Wasser anvertrauen wollen.
Weiter wird diese Kirche wie ein Bollwerk in all dem Untergang und Neuanfang stehen. Mit offenen Türen. Mit Kaffee und Stühlen. Mit Schuhen und Strümpfen. Mit Zeit für ein Gespräch und Übernachtungsangeboten. Mit Gottesdiensten und Menschendiensten. Und 5000 werden satt. Wer bei diesen 5000 dabei war, wird nicht nur den Hunger in Erinnerung behalten. Sondern auch die Nahrung, die wir alle bekommen haben.