Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.
Khalil Gibran (* 06.01.1883, † 10.04.1931)
Dieses Gedicht des maronitischen Dichters und Mystikers Khalil Gibran lernte ich schon vor vierzig Jahren, während meines Studiums kennen. Ich liebte seine poetische Sprache, seine faszinierenden Bilder, aber seinen Sinn begriff ich nicht.
Der Text trat in meinem Leben immer mal wieder zu verschiedenen Gelegenheiten aus dem Hintergrund ins Scheinwerferlicht der Aktualität, und je länger ich mich damit auseinander setzte, je länger ich selber Eltern-Erfahrungen sammeln durfte, desto weiser erschien er mir.
Heute sind unsere Töchter außer Haus. Sie sind ziemlich selbstständig. Ihre Nähe vermissen wir. Immer wieder machen sie – aus unserer Sicht – reichlich seltsame und törichte Sachen. Jetzt, wo die “Familienphase” vorbei ist, haben wir viel weniger Mühe mit ihnen. Die Sorgen aber bleiben.
Es ist nicht immer einfach, der Versuchung zu widerstehen, sie vor (aus unserer Sicht) krassen Irrwegen zu beschützen, sie noch einmal unter unsere Fittiche zu nehmen, hubimäßig über ihnen zu schweben und einen spürbaren Rettungsschirm über ihnen auszubreiten.
Doch ich glaube, das wäre ein Fehler. Denn Khalil Gibrans Worte treffen den Nerv:
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Wir besitzen unsere Kinder nicht. Das zu glauben, wäre eine vermessene Überforderung –
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eine Überforderung von uns selbst als Eltern: Denn im Normalfall sterben wir vor unseren Kindern, und was wäre das für ein qualvolles Leben, wenn wir bis zum letzten Atemzug – und vom Anspruch her noch darüber hinaus – die Herrschaft über unsere Nachkommen behalten wollten,
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und eine Überforderung unserer Kinder: Denn wie sollten aus ihnen starke, selbstständige, liebevolle Persönlichkeiten werden, wenn wir sie zeitlebens nicht aus unserem Fängen lassen?
An diesem Punkt tritt Gott in Erscheinung. Wer sich auf das Abenteuer “Eltern sein” einlässt, erlaubt sich heute nicht nur einen großen Luxus, für den man auf so manchen Komfort verzichtet, den die Kinderlosen ganz selbstverständlich genießen – man wird auch in besonderer Weise zum Diener Gottes.
Denn es sind die Eltern, die Gottes lebendige Schöpfung erhalten, indem sie für Nachkommen sorgen.
Unsere Kinder kommen durch uns Eltern, aber sie kommen von Gott – wie auch wir selbst. Sie sind mit uns – Lebensabschnittsbegleiter -, aber sie gehören uns nicht, sondern gehören Gott – wie auch wir selbst.
Und an alle Eltern, die sich selbst noch als geknechtete Kinder ihrer Eltern erleben: Ihr gehört nur Gott, sonst niemandem. Wenn ihr unter der Vorherrschaft eurer Eltern leidet: Löst euch! Sie haben kein Recht, euch zu besitzen. Sie dürfen euch aber lieben.
Denn: Eure Kinder – und wir selbst, als die Kinder unserer Eltern –
sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Was für ein Bild Khalil Gibran hier entwirft!
Was ist das Leben?
Gottes Geisthauch, welcher Wärme, Bewegung und Bedeutung in die Starre der rohen Schöpfung bringt. Gottes Anwesenheit, die das Tote aufweckt, die werden und vergehen lässt in einem endlosen Reigen, die sich selber feiert und fortentwickelt voller Vielfalt, voller Sehnsucht auf ein Ziel hin, das Gott gesetzt hat.
Und wir Kinder – besonders aber wir Eltern – sind fest verwoben darin, feiern mit und entwickeln uns und die unsrigen weiter in dem winzigen Zeitabschnitt, der uns gegeben ist.
Doch die Zeiten der Eltern und die der Kinder – auch wenn sie sich überlagern – sind nicht dieselben.
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.
Darum müssen Eltern, die ihren Kindern, als sie klein waren, Möglichkeiten und Grenzen setzten, auch sich selbst Grenzen setzen:
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen –
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.
Das Leben hat eine Richtung, und nicht wir geben diese Richtung vor.
Der Dichter verwendet ein tiefgründiges Bild in seinem Schlussteil:
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Wir Eltern sind nicht der Schütze, der seine Kinder als Pfeile in die Zukunft sendet. Wir sind der Bogen, mit dem Gott schießt. Wir sind Diener, Mittel, Geführte – hoffentlich!
Wir müssen, können nicht alles kontrollieren. Die Last, als Eltern alles schaffen zu müssen, liegt nicht auf uns.
Ja, Eltern-Sein ist aufreibend, anspannend. Eltern-Sein ist eine spürbare Kraft-Anstrengung und erfordert Liebe, Aufmerksamkeit, Wachheit, Augenmaß – aber keine Perfektion, keine totale Kontrolle, keine Übermacht. Eltern-Sein erfordert vor allem viel Vertrauen:
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In die, die bei der Erziehung helfen – Angehörige, Lehrer, Betreuer,
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in die Kinder selbst, die man fliegen lassen muss,
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und in Gott, der uns anspannt und dem Schuss die Richtung gibt.
Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.
Das Finale – und der wichtigste Ratschlag: Gott richtet uns Bögen und seine Pfeile auf Freude aus! Geben wir sie weiter an unsere Kinder, verderben wir sie nicht! Denn Freude ist in der Liebe, und Gott liebt nicht nur seine Kinder, die Pfeile, die in die Zukunft schießen, sondern auch die Eltern. Darum gibt er ihnen Festigkeit und Kraft. Und Flexibilität, damit die Pfeile, die Kinder weit, weit kommen.
Festigkeit und Flexibilität: Diese Gaben Gottes an uns Eltern sind nicht hoch genug zu schätzen.
Fehlt die Festigkeit, dann kommt der Pfeil ins Schlingern und hält seine Richtung nicht ein. Der Schuss mißrät.
Fehlt die Flexibiltät, dann bricht der Bogen, wenn er stark angespannt wird. Wie viele Kinder haben solche zerbrochenen Bögen als Eltern und leiden darunter ihr Leben lang.
Gott, der Schütze, liebt es, wenn das Elternpaar unterschiedlich zusammengesetzt ist wie ein Kompositbogen – die teuerste, leistungsfähigste und haltbarste Bauart der Bögen. In solch einer Familie knistert es, manchmal wird es laut, und alle Beteiligten müssen einiges aushalten. Aber Kinder wachsen nicht dort aus ihrem Nest heraus, wo für alles perfekt gesorgt ist, sondern dort, wo es Probleme zu lösen gibt, wo sie Herausforderungen anpacken und mit Freude und Unterstützung bewältigen können.
Es ist schön, wenn die Pfeile – die Kinder – dann und wann zurückkommen und ihre Verbundenheit mit dem Bogen zeigen, der sie spannte. Aber das zeichnet einen guten Bogen nicht aus. Sondern dass der Schuss gelingt und die Pfeile gerade und weit auf das Ziel zufliegen, welches Gott, der Schütze, ihnen gesetzt hat.