Ge(h)danken auf dem Jakobsweg – Etappe 5

Und es geht wieder los. Heute müssen wir 26 Kilometer laufen. Obwohl wir schon sehr früh losgegangen sind, ist es um 10 Uhr schon super warm. Das ist zwar einerseits besser als Regen, aber Schweißflecken auf den T-Shirts sind schon eklig. Und peinlich. Hoffentlich treffen wir nicht auf Jungs, das wäre schon extrem schlimm.

Nach ein paar Orten biegen wir in eine Sackgasse, die nach kurzer Strecke in einen Feldweg mündet. Vor dem letzten Haus steht eine ältere Dame, die ihren Hof kehrt. Als sie uns sieht, spricht sie uns an, ja – sie stürzt sich regelrecht auf uns und fragt, ob wir wirklich Pilger seien, bietet uns an, dass wir ihr Klo benutzen können. Die nette Dame zählt uns alle Getränke, die ihr Haushalt aufweist, auf, unter anderem Saft und Cola und allein bei dem Namen Cola wird meine kleinste Schwester sofort hellhörig.

„Oh ja bitte Mama!“ ruft sie und strahlt die Dame an, die sofort dahinschmilzt beim Anblick dieses kleinen blonden Mädchens. Schon will sie sich umdrehen und zum Haus laufen, … doch sie wird von meiner Mutter aufgehalten. „Nein, vielen Dank, aber wir müssen weiter.“  Die folgenden Reaktionen sind filmreif. Vom wütenden Auftreten über zornige Grimassen bis hin zu kleinen Wutausbrüchen ist alles dabei. Aber meine Mutter bleibt ihr gegenüber konsequent (konsequenter als üblich…) und wir ziehen leider weiter, ohne die Gastfreundschaft in Anspruch genommen zu haben.

Die Sonne geht schon fast unter, als wir endlich den Fluss überqueren und in die Vorstadt kommen. Für uns steht fest, das mittelalterliche Kloster liegt auf dem Berg in der Altstadt – da braucht man nicht die Unterlagen aus dem untersten Rucksack herauszukramen. Ein kurzer Blick (sicherheitshalber) auf den Stadtplan zeigt dort an „Klostergasse“. Also Beine in die Hand genommen, an einer großen Kirche schnell vorbei (sicher neugotisch, der alte Klotz), noch einmal fast zwei Kilometer im Laufschritt hinauf. Oben angekommen erwartet uns ein Fest. Überall Stände mit Leckereien. Und auf einem Ohr höre ich, wie jemand „Merk d’rs awer gli: Surkrut hab i keini – nummol Flammekueche.“ sagt und ich muss schon sagen, dass das für meine fast schon lothringischen Ohren verdammt nah an dem Dialekt aus unserer Region klingt – und nach leckerem Essen. Es ist tatsächlich ein elsässischer Markt, der wohl jedes Jahr zugunsten einer Städtepartnerschaft hier kräftig gefeiert wird. HUNGER!

Die Menschen sind alle dabei, ihre Waren einzupacken und die Stände abzubauen: eine Dame mit Croissants und eine andere mit duftenden Crépes, aber kein Kloster. Nirgends. Nicht mal eine Kirche. Wir erkundigen uns und finden heraus, dass wir völlig umsonst den Berg hochgestürmt sind, denn das Kloster liegt im Tal an den Ufern des Flusses. Wir erkennen, dass fehlende kunsthistorische Kenntnisse (der alte Klotz war tatsächlich echte Gotik…) uns diesen Umweg beschert haben; ja – Bildung macht lebenstüchtig!

Also wieder bergab ins Tal. Im Kloster begrüßt uns ein Pater mit „Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr…“ Er drückt meinem Vater das Prospekt eines Konzertes geistlicher Chöre in die Hand und lädt uns herzlich dazu ein, vorausgesetzt wir seien nicht zu müde.

Er zeigt uns den Speiseraum und unsere Zimmer. Als meine Schwester herausfindet, dass es nur eine Toilette und eine Dusche im 70er Jahre Stil für die ganze Etage (!) gibt, entscheidet sie sich dazu, vor dem Abendessen noch schnell zu duschen, um später nicht vielleicht einem Mönch zu begegnen. (Den gruseligen Edgar-Wallace-Film aus dem Skiurlaub vor ein paar Jahren hat sie offenbar immer noch nicht vergessen…)

Das Essen ist sensationell, so wie es sich für ein Kloster außerhalb der Fastenzeit gehört. Das muss man den Katholiken schon lassen, unter denen sich dann doch kein Italiener (also keine Nudeln…) befindet. Wir müssen schnell machen, denn außer uns isst hier eine hungrige bayrische Pilgergruppe, ein ganzer Bus voll, und die hauen rein, als gäbe es kein Morgen!

Dann voller Spannung zum geistlichen Chorkonzert. Das Programm kündigt an „Augenblicke der Unendlichkeit“ von Gyöngyösi, Ostrzyga, Gorecki u.a. Doch es wird ein endlicher Abend – die Musik ist so unverständlich wie die Namen der Komponisten. Lautmalerische Akzente wie Vogelstimmen, Wind, Wellen und Meeresrauschen tun zuverlässig ihre Wirkung und bei dem Stück „Sleep, fleshly birth“ durchdringt mein lautes Schnarchen den Kirchenraum und vereinigt sich mit der beeindruckenden Klangkulisse.

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